1902 gründete der amerikanische Singer-Konzern im zaristischen Russland sein erstes Werk in Podolsk, rund 40km südlich von Moskau (dieses russische Podolsk darf nicht mit Kamenez-Podolsk in Weissrussland verwechselt werden). Das Werk entwickelte sich schnell zum zweitgrössten des Konzerns.

 

Die Geschichte des Podolsker Singer-Werkes bis 1918 wird (in englisch) ausführlich beschrieben in http://www.helsinki.fi/iehc2006/papers3/Potkina.pdf

 

Zwischen 1902 und 1915 wurden auf modernsten, aus den USA importierten Werkzeugmaschinen rund 3 Millionen Haushalts- und Spezial-Nähmaschinen für den russischen Markt gebaut. Die Dampfkessel und -maschinen für die Fabrik stammten aus Russland. Die Holzteile für Tische und Schränke fertigte man aus Qualitätsgründen weiter in USA, ließ sie aus Zollgründen in Schottland fertigstellen und importierte sie nach Podolsk. Die Leitung von 1902 bis 1917 hatte ein Amerikaner namens Walter Frank Dixon.

 

Die Singer Geschäftsleitung hat sich in dieser Zeit überdurchschnittlich für die im zaristischen Russland eher dürftig befriedigten sozialen Belange seiner Mitarbeiter eingesetzt. 1904 gründete man nach den Erfolgen in Podolsk ein zweites kleineres Werk in St. Petersburg.

Im ersten Weltkrieg wurden in den Werken Gewehre und Pistolen hergestellt

 

 Das ehemalige Singer Werk in Podolsk heute  (Bildquelle: http://marysrussiaguide.blogspot.de/2013/04/podolsk.htmlt)
Das ehemalige Singer Werk in Podolsk heute (Bildquelle: http://marysrussiaguide.blogspot.de/2013/04/podolsk.htmlt)

Zur weiteren Geschichte nach 1918 hier ein Zitat aus der Moskauer Deutschen Zeitung vom 21.01.2007:

"Während des Ersten Weltkrieges wurde die Produktion auf militärische Zwecke abgestellt. Nach der Oktoberrevolution rückten die Bolschewiki dem Privatbesitz zu Leibe. 1918 wurde die Podolsker Fabrik nationalisiert. Zu Sowjetzeiten stellte sie weiter Nähmaschinen her, nur ohne die Insignien von Singer. Das „Mechanische Werk imeni Kalinina” brachte es kurz vor der Perestrojka auf einen Ausstoß von 1,5 Millionen Haushalts-Nähmaschinen pro Jahr. Das reichte trotzdem nicht: Die Maschinen vom Typ „Tschajka” waren defizitär. Dabei arbeitete das Werk an der Belastungsgrenze – größtenteils noch mit Ausrüstung, die 1946 als Reparationsleistung vom deutschen Hersteller Veritas* aquiriert worden war. Und die Werkshallen stammten sogar aus der Gründerzeit unter Singer."

 *muss natürlich „vom Wittenberger Werk des Singer-Konzerns“ heissen, Anm. HD

 

1991 stieg Singer mit zehn Millionen Dollar wieder in Podolsk ein. Doch die Firma – die ihren alten Namen annahm – hatte international hoffnungslos den Anschluss verloren. Trotz über 300 Veränderungen scheiterte 1994 der Versuch, auf den Weltmarkt vorzudringen. Dann brach auch noch die einheimische Auftragslage weg. 1996 und 1997 musste die Produktion eingefroren werden. Auf den Fließbändern montierten die Arbeiter ausländische Fernseher zusammen. Der Währungscrash von 1998 sorgte paradoxerweise für ein Strohfeuer an Hoffnung, denn er paralysierte die Importkonkurrenz. Und Singer Podolsk hatte sich modernisiert und reformiert. Doch aus den ehrgeizigen Plänen wurde nichts. Die OAO „Singer” ging in einem Zusammenschluss von inzwischen 112 kleinen und mittleren Gewerbetreibenden unter der Bezeichnung „Singer-SKIF” auf, was für einen Industriepark auf dem ehemaligen Werksgelände steht. Am Telefon erklärt eine Dame geduldig: Nähmaschinen werden hier nicht mehr hergestellt.

 

Im November 1918 wurde die Singer-Werke in Podolsk und St. Petersburg offiziell enteignet und unter staatliche Kontrolle gestellt. Man begann die Produktion von Haushaltsnähmaschinen der vorherigen Singer-Typen die man nun als"Gosshveymashina" („Nationale Nähmaschine“) vermarktete , später dann als "Podolsk" und „Čajka“ („Möve“). Die Fabrik wurde in Podolsker Maschinenbau Werk (PMZ) umbenannt, und dann in Kalinin Nähmaschinenwerk (ZIK) wie oben schon beschrieben. Schließlich dienten Nähmaschinen Karl Marx in „Das Kapital“ als Anschauungsbeispiel für kapitalistische Ausbeutung oder sozialistische Planwirtschaft. Die Nähmaschinenwerke wurden folglich „sozialistische Musterbetriebe“.

 

Viele Russen glaubten seit 1902, Singer sei eine „deutsche Marke“ womit man nach 1946 auch die Kriegsbeute der Produktionsmaschinen aus dem Singer Werk in Wittenberge rechtfertigte. Tatsächlich hatte ja Isaac Merritt Singer auch deutsche Vorfahren, aber das spielte bei der Wahrnehmung keine Rolle. Das Singer-Werk in Wittenberg gehörte dem amerikanischen Mutterkonzern! Vielmehr war Deutschland zum Synonym für begehrte Spitzentechnologie geworden, aber auch zum gehassten Feind seit dem 2. Weltkrieg. Man darf nicht vergessen, dass die Region um Podolsk besonders unter deutschen Truppen gelitten hatte, das Werk wurde in den Kampfhandlungen um Moskau von beiden Seiten schwer beschädigt. Die vor dem 2. Weltkrieg vorhandenen Maschinen waren vor der heranrückenden deutschen Front 1941 nach Akmolinsk, heute Astana in Kazakhstan ausgelagert worden und blieben wohl auch dort. Die Sowjets hatte viele kriegswichtigen Betriebe dorthin gerettet. Details zur Demontage der Wittenberger Maschinen und zum Transport nach Podolsk finden sich unter: http://home.arcor.de/veritasklub/naehmaschinenwerk_chronik/seite_betriebschronik08.htm

Um den moralischen Anschein der Wiedergutmachung zu wahren, ließen die Amerikaner die Demontage der ziemlich verschlissenen Maschinen nach anfänglichem Widerstand und ihre Weiterverwendung in Podolsk also zu.

 

Nach der Wiederaufnahme der Produktion um 1946 wurde der geringfügig modernisierte Nachbau der Singer 15-88 unter der Bezeichnung „Podolsk/ Čajka 2M“ zum Verkaufs- und Exportschlager. Diese einfache Gradstich-Maschine wurde damit zum meistgebauten Nähmaschinentyp der Welt. Die beliebten und unverwüstlichen Maschinen wurden nach Auslaufen der Patente auch zeitweise in Japan nachgebaut. Noch heute kommen sie fabrikneu aus China. Singer-15-88-„Klone“ sind unter verschiedensten Pseudo-Labels wie Prinzess, Germania, Union, Mercedes, Privileg (nicht Quelle!), Dressmaker, GeKa u.v.a. und mit teils kitschigen Farbgestaltungen gebraucht und neu im Verkauf. Wenn zwei stilisierte, „fliegende“ Möwen, das Markenzeichen der Podolsker Fabrik, eingeprägt auf dem hinteren Deckel oder als Aufkleber auf der Armstütze erkennbar sind, verweisen sie auf die Herkunft. Nicht immer wurde es aber erkennbar verwendet, manchmal veraten kyrillische Schriftzeichen die Herkunft. Bei „hochglänzend erhaltenen“ Maschinen ohne authentische Singer-Seriennummer sollte man sich nicht täuschen lassen. Vorsicht, selbst die Nummern wurden teilweise nacherfunden, wie ein vorliegendes Foto einer Podolsker Maschine mit der Nummer C8715441 von 1956 lt. Kaufbeleg beweist. Nummern mit vorangestelltem C gab es eigentlich nur für Maschinen aus Wittenberge vor 1945. Da hat man die frei erfundene Nummer gleich mal dazukopiert, obwohl die Werkmarke aus Podolsk auf der Armstütze deutlich sichtbar ist.. Dennoch sind diese kopierten Maschinen erstaunlich robust und funktionstüchtig, ein Qualitätsbeweis für die Singer-Konstruktion. Vermutlich wurden sie in Podolsk bis zu zuletzt auf den 1946 erbeuteten originalen Singer-Werkzeugmaschinen gefertigt und sind insofern „fast original“.

 

Neben Singer-Kopien wurde in Anlehnung an alte Singerkonstruktionen auch verschiedene eigenentwickelte, moderne Haushalt- und Industriemaschinen gefertigt. Dabei lehnte man sich auch an Konstruktionen der DDR-Veritas-Werke in Wittenberge an, aber mit robusten CB-Greifern mit Pleuelsteuerung statt den feinen Veritas-typischen Umlaufgreifern mit Schnurkettenantrieb. Alle Podolsk-Maschinen zeichnen sich durch geringe Verwendung von Kunststoffen und robuste Ausführung des mechanischen Teils aus. Die Fabrik in Podolsk war um 1980 der weltgrößte Nähmaschinenhersteller! Entsprechend haben etliche Maschinen den Umzug vieler deutschstämmigen Russenfamilien nach Deutschland funktionsfähig überlebt und gelangen mit der typischen kyrillischen Beschriftung vereinzelt in den deutschen Gebrauchtmaschinenmarkt. Vermutlich wurden auch Maschinen in die DDR als Transferleistungen importiert. Bekannt ist die lateinisch beschriftete „Union 100 Elektrohansa“ die mit der „Podolsk 100“ identisch ist. Durch die dringend benötigten devisenbringenden Exporte der an der Auslastungsgrenze produzierenden Veritas-Werke vor allem für Quelle, Neckermann und Victoria Detmold in der BRD, aber auch in andere Länder, herrschte ab den 70er Jahren in der DDR zeitweise ein Mangel an neuen Maschinen.

 

Ein Denkmal mit einer überdimensionalen Singer (!)-Tret-Nähmaschine erinnert heute in Podolsk an die Blütezeit der Stadt durch das Werk, obwohl die „Singer“-Zeit nur wenige Jahre lang währte. Dennoch hat die Firma Singer den Menschen in Podolsk vor dem ersten und indirekt nach dem zweiten Weltkrieg einen gewissen Wohlstand gebracht. Heute fehlt dort ein solcher Arbeitgeber. Nach westlichen Maßstäben hat das Werk in Podolsk nach 1918 vermutlich nie mehr wirtschaftlich gearbeitet, was aber auch kein sozialistisches Ziel war. Leider liegt noch viel über die Podolsker Nähmaschinengeschichte nach 1918 im Dunkeln. Wer hierzu Beiträge leisten kann ist herzlich zur Ergänzung bzw. Korrektur gebeten.

 

Text: H. Demmer

 

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